Europa hat viele Stärken: wettbewerbsfähige Unternehmen, gut ausgebildete Fachkräfte und in Teilen der Gesellschaft hohe Ersparnisse. Trotzdem fließt zu wenig Kapital dorthin, wo es dringend gebraucht wird – etwa in die grüne Transformation, in innovative Start-ups oder in wichtige Zukunftstechnologien in Europa. Viele europäische Wachstumsunternehmen schaffen Wertschöpfung und Arbeitsplätze, gehen für die Finanzierung aber an den US-Kapitalmarkt, weil es in Europa an passenden Rahmenbedingungen fehlt.
Denn der europäische Kapitalmarkt ist zersplittert. In jedem Mitgliedstaat gelten eigene Regeln – bei der Aufsicht, bei Steuern, bei Insolvenzverfahren. Diese Unterschiede behindern einen funktionierenden Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen. Sie führen zu unnötiger Bürokratie, Intransparenz, höheren Kosten und steuerlichen Fehlanreizen. Dadurch bleiben sowohl Unternehmen als auch Sparer*innen hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Ein stärker integrierter europäischer Kapitalmarkt darf dabei nicht mit blinder Finanzialisierung verwechselt werden. Es braucht klare Regeln, wo Kapitalmärkte sinnvoll sind – und wo nicht. Kurzfristig orientierte Investor*innen haben im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, etwa bei Wasserversorgung oder medizinischer Grundversorgung, nichts verloren. Stattdessen braucht es langfristige, verantwortungsbewusste Investor*innen, die die europäische Wirtschaft stärken – zum Beispiel Pensionsfonds oder entsprechende staatliche Rentenfonds.
Auch für Bürger*innen soll sich die Kapitalmarktunion – oder jetzt umbenannt in die Sparer und Investitionsunion – lohnen. Dafür braucht es einfache, transparente und kostengünstige Anlageprodukte. Viele heutige Produkte, die über Provisionsberatung vertrieben werden, sind im Durchschnitt rund 25 Prozent teurer als vergleichbare Produkte ohne Provisionen. Wir setzen uns deshalb für ein europäisches Standardprodukt zur privaten Altersvorsorge ein, das ohne versteckte Kosten auskommt. Für Deutschland haben wir dazu einen Bürgerfonds als ersten Schritt vorgeschlagen.
Wichtig ist aber auch: Kapitalmarktteilhabe darf kein Privileg der oberen Einkommen bleiben. Wer wenig verdient, braucht besondere Unterstützung beim Vermögensaufbau. Deshalb braucht es gezielte Förderungen für Menschen mit geringem Einkommen, damit auch sie die Chance haben vom Zinsenszinseffekt zu profitieren.
Ein echter europäischer Kapitalmarkt ist also kein Selbstzweck. Er ist ein Instrument, um Innovation und Wohlstand in Europa zu stärken – und um uns in Zeiten der geopolitischen Unsicherheit unabhängig zu machen. Das Potenzial dazu haben wir.
Finanzminister Lars Klingbeil sollte sich im Rat für die zügige Umsetzung zentraler Reformen wie einer gemeinsamen Einlagensicherung und eines europäischen Insolvenzrechts einsetzen – und zugleich verhindern, dass der politische Trend zur Deregulierung die Finanzstabilität untergräbt. Denn stabile Finanzmärkte sind ein klarer Standortvorteil.