Wie die Bundesregierung Chancen verspielt und der Gleichstellung schadet.
638 Millionen unbezahlte Überstunden
Im Jahr 2024 haben Beschäftigte in Deutschland laut IAB und DGB insgesamt etwa 1,2 Milliarden Überstunden geleistet – mehr als die Hälfte davon, genauer 53,6 %, sogar unbezahlt. Das entspricht über 750.000 Vollzeitstellen. Angesichts dieser enormen Mehrleistung wirkt es geradezu zynisch, wenn Friedrich Merz und die Bundesregierung von einer mangelnden Leistungsbereitschaft sprechen.
Leisten wir wirklich zu wenig?
Die Bundesregierung setzt aktuell auf das Prinzip „mehr Erwerbsarbeit“: Vollzeitbeschäftigte sollen noch mehr arbeiten, und Überstundenzuschläge sollen ab 2025 steuerfrei werden. Das klingt nach einer Entlastung für Arbeitnehmer*innen – doch ist das wirklich der richtige Weg in Richtung Gleichstellung und Gerechtigkeit?
Schon heute leisten Beschäftigte enorme Mehrarbeit. Fast die Hälfte aller Beschäftigten macht regelmäßig Überstunden, 20 % sogar eine bis fünf Stunden pro Woche extra, weitere 24 % noch mehr. Jede*r Zehnte in Vollzeit arbeitet sogar mehr als 48 Stunden pro Woche. ¹ Arbeitsmedizinisch ist längst erwiesen, dass Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden die Gesundheit gefährden. Warum also sollten steuerfreie Überstundenzuschläge überhaupt erstrebenswert sein?
Rentner*innen als Reserve – ein Armutszeugnis
Gleichzeitig schlägt etwa CDU-Politiker Carsten Linnemann vor, dass Rentner*innen in Deutschland mehr arbeiten sollen. Bereits heute gehen mehr als eine Million Menschen über 67 Jahren arbeiten – ein Drittel davon unfreiwillig, weil die Rente schlicht nicht ausreicht. ² Statt Rentner*innen den wohlverdienten Ruhestand zu ermöglichen, fordert die Bundesregierung weitere Belastungen für eine Generation, die bereits ihr Leben lang hart gearbeitet hat. Besonders hart ist das für Menschen in körperlich und psychisch belastenden Berufen wie Bau, Pflege oder Handwerk, die kaum bis zum regulären Renteneintritt arbeiten können. Ein zukunftsfähiges Rentenkonzept, das Altersarmut wirklich bekämpft und Rentner*innen nicht zur zusätzlichen Erwerbsarbeit zwingt, bleibt die Bundesregierung bislang schuldig.
Verschenktes Potenzial – aktive Verhinderung von Integration
Zusätzlich ignoriert die Bundesregierung leider gezielt das enorme Potenzial von Zuwanderung in unseren Arbeitsmarkt und behindert bewusst die Integration. Statt bürokratische Hürden endlich abzubauen, verschärft sie Zugangsbeschränkungen und erschwert die Einbürgerung auch für bereits integrierte Zuwanderer*innen. Menschen mit wertvollen Qualifikationen, die dringend benötigte Arbeitskräfte sein könnten, dürfen oft nicht arbeiten – obwohl sie das wollen und könnten. Das ist nicht nur wirtschaftlich unsinnig, sondern auch eine Ungerechtigkeit, die Menschen daran hindert, ihr volles Potenzial zu entfalten. Es ist sozial verantwortungslos, ihnen Chancen zu verweigern und erschwert aktiv eine gelingende Integration. Statt Fähigkeiten zu nutzen und zu unterstützen, verschenkt man wertvolle Chancen für Gesellschaft und Wirtschaft.
Minijobs – Anreiz für den Status Quo
Ein weiterer problematischer Punkt sind Minijobs: Wer die monatliche Grenze von aktuell 556 Euro knapp überschreitet, zahlt deutlich höhere Abgaben. Statt zu motivieren, bremsen diese Regelungen Beschäftigte aus und verhindern, dass aus Minijobber*innen sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer*innen werden. Besonders betroffen sind Frauen, die oft neben intensiver Care-Arbeit in Minijobs arbeiten und durch die Regelungen davon abgehalten werden, ihre Arbeitszeit schrittweise auszubauen und langfristig finanziell unabhängig zu werden. Das Ergebnis ist häufig fatal: Wer lebenslang unbezahlte Care-Arbeit leistet und nur einen Minijob hat, droht im Alter bei einer Scheidung – man beachte: 40 % der Ehen werden geschieden – in Armut zu geraten.
Frauen leisten bereits enorme Arbeit – meist unbezahlt
Die Realität gerade vieler Frauen wird völlig ausgeblendet: 68 % der Mütter arbeiten in Teilzeit, weil sie die restliche Zeit für die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen benötigen. Ein Vollzeitjob neben Care-Arbeit ist für die meisten schlicht nicht machbar. Nur 12 % der Männer arbeiten in Teilzeit, bei den Frauen sind es 49 %. ³ Der Gender Care Gap ist eklatant: Frauen leisten rund 44 % mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer. ⁴
Die geplante Steuerbefreiung von Überstundenzuschlägen verstärkt diese Schieflage noch weiter: Wenn Vollzeitarbeitende durch die steuerlichen Vorteile noch mehr Netto vom Brutto behalten, entstehen zusätzliche finanzielle Anreize, weiter oder sogar mehr Überstunden zu machen. Gleichzeitig könnte in Paarbeziehungen die Person, die bereits Teilzeit arbeitet – meist die Frau – noch weniger Anreiz verspüren, ihre Arbeitszeit zu erhöhen, da sich dies finanziell weniger lohnt. Die Folge wäre eine noch stärkere Ungleichverteilung des Gehalts zwischen Geschlechtern.
Die Soziologin Jutta Allmendinger fordert eine 32-Stunden-Woche im Lebensdurchschnitt, damit Erwerbs- und Care-Arbeit für alle Geschlechter vereinbar werden. Auch Ökonom Marcel Fratzscher sieht Handlungsbedarf: „Eine faire Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch ein wirtschaftlicher Standortfaktor.“
Expert*innen betonen, dass es bei der Debatte um mehr Erwerbsarbeit nicht nur um zusätzliche Stunden geht, sondern vor allem um gerechte Rahmenbedingungen für alle. Ohne eine faire Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit bleibt Gleichstellung eine Illusion. Teresa Bücker bringt es auf den Punkt: „Viele Frauen sind längst voll beschäftigt – nur eben unbezahlt zu Hause. Wer mehr Erwerbsarbeit von Frauen fordert, muss erstmal die Voraussetzungen dafür schaffen.“
Selbstbestimmt arbeiten – Wunsch & Wirklichkeit
Die entscheidende Frage lautet: Können Frauen überhaupt selbstbestimmt entscheiden, wie viel sie arbeiten wollen? Umfragen zeigen klar, dass viele Frauen gerne mehr erwerbstätig sein würden – es aber schlicht nicht können, weil die notwendigen Voraussetzungen fehlen. Die Verantwortung hierfür trägt die Bundesregierung, die endlich handeln und echte Veränderungen schaffen muss: Dazu zählen flächendeckende Kinderbetreuung, Abschaffung steuerlicher Fehlanreize wie des Ehegattensplittings und Förderung flexibler, familienfreundlicher Arbeitszeitmodelle. Nur so wird echte Wahlfreiheit und Chancengleichheit für alle möglich.
Mein Fazit
Mehr Erwerbsarbeit zu fordern, ohne die Rahmenbedingungen für eine gerechte Verteilung aller Arbeit zu schaffen, verschärft die Ungleichheit und zementiert alte Rollenbilder. Wer Gleichberechtigung will, muss Sorgearbeit sichtbar machen, Betreuungsangebote ausbauen und steuerliche Anreize neu ausrichten. Andernfalls tragen weiterhin die Frauen die emotionale und finanzielle Last – und echte Gleichstellung rückt in weite Ferne.