1. Haushalt & Finanzen: Politik unter Finanzierungsvorbehalt
„Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrags stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“ – Wer diesen Satz liest, versteht schnell: Vieles wird in diesem Vertrag versprochen, aber wenig davon ist tatsächlich gegenfinanziert – und damit mehr Wunsch als Wirklichkeit.
Versprochen werden dabei vorwiegend Steuergeschenke ohne Gegenfinanzierung: Die Subventionen für Agrardiesel sollen zurückkehren, die Gastronomie erhält dauerhaft eine reduzierte Mehrwertsteuer, und teure Elektro-Dienstwagen bleiben steuerlich privilegiert. Die einheitliche Pendlerpauschale von 38 Cent ab dem ersten Kilometer – derzeit noch erst ab dem 21. km – bringt vor allem Besserverdienenden mit langer Anfahrt und hoher Steuerlast Vorteile. Gleiches gilt für steuerliche Anreize zur Mehrarbeit oder für Rentner*innen – all diese Maßnahmen nützen vor allem männlichen Vollzeiterwerbstätigen mit höherem Einkommen. Wer in Teilzeit arbeitet, sich keinen Restaurantbesuch leisten kann oder kein Dienstwagenmodell zur Verfügung hat, geht leer aus.
Die Kleine Koalition verspricht, die finanzielle Situation von Alleinerziehenden zu verbessern – bleibt aber bei Symbolpolitik stehen. Die geplante Erhöhung des Entlastungsbetrags geht an den tatsächlichen Bedarfen vorbei: Profitieren können nur jene, die ausreichend zu versteuerndes Einkommen haben. Wer knapp über dem Grundfreibetrag liegt – und das trifft auf viele Alleinerziehende zu – erhält wenig oder gar nichts. Die Maßnahme setzt also dort an, wo die Not am geringsten ist, und verfehlt damit ihr Ziel vollständig.
Die Chance, mit einer Reform der Erbschaftsteuer, der Immobilienbesteuerung oder des Ehegattensplittings soziale Gerechtigkeit zu schaffen, wird bewusst vertan. Auch das Klimageld – ein zentraler sozial-ökologischer Ausgleichsmechanismus zur CO₂-Bepreisung – kommt nicht. Dabei wäre der technische Auszahlmechanismus inzwischen einsatzbereit. Stattdessen setzt die Koalition erneut auf Strompreis-Kompensation – eine Lösung, die sozial schlechter wirkt und weniger zielgenau und inzwischen durch einen vorhandenen Auszahlungsmechanismus unnötig ist.
Im Bereich der Unternehmensbesteuerung bleiben große Impulse aus. Eine Senkung der Körperschaftsteuer in fünf Schritten um je einen Prozentpunkt ab 2028 kommt spät. 3 mal 30 % Sofortabschreibungen bringen kurzfristig Liquidität, ändern aber wenig an der Gesamtsteuerlast über die Zeit. Fragwürdig ist zudem der Plan, mit öffentlichen Fonds private Mittel zu „hebeln“ – ein Modell, bei dem das Risiko beim Staat, die Gewinne aber bei privaten Investoren liegen könnten. Hier wird es auf die genaue Ausgestaltung ankommen.
Auch in der Finanzmarkt- und Kapitalpolitik bleibt vieles vage: Die europäische Kapitalmarkt- und Bankenunion wird nur oberflächlich erwähnt. Gerade in geopolitisch unsicheren Zeiten wäre ein starker, strategisch geführter europäischer Kapitalmarkt dringend notwendig – etwa für die Finanzierung der Transformation, Innovation und wirtschaftlichen Resilienz Europas. Doch konkrete Maßnahmen bleiben aus.
Der Umgang mit den Altmitteln aus der Bankenabgabe wirft Fragen auf. Ursprünglich sollten die verbleibenden Mittel zur Schuldentilgung aus der Finanzkrise verwendet werden. So sah es der Ampel-Gesetzesentwurf und der Vorschlag für den Koalitionsvertrag aus der AG-Finanzen vor. Nun ist geplant, das Geld an Banken zurückzuführen – verbunden mit Auflagen für KMU-Kredite und Eigenkapitalinstrumente. Ob das tatsächliche Wirtschaftsförderung oder ein milliardenschweres Geschenk für Banken wird, bleibt abzuwarten.
Einige wenige positive Punkte gibt es dennoch: Die geplante Gleichstellung von Personen- und Kapitalgesellschaften im Steuerrecht ist überfällig und sinnvoll. Der Mindesthebesatz für die Gewerbesteuer soll auf 280 % steigen, um Steuervermeidung über Briefkastenfirmen zu erschweren. Auch das Ziel, Steuerhinterziehung und Geldwäsche schärfer zu bekämpfen – etwa durch mehr Betriebsprüfer – ist richtig. Außerdem soll die Schere zwischen Kindergeld und der steuerlichen Entlastung durch Kinderfreibeträge reduziert werden. Das ist grundsätzlich zu begrüßen – vorausgesetzt, die Anpassung erfolgt durch eine Erhöhung des Kindergeldes und nicht durch Kürzungen bei den Freibeträgen. Nur so profitieren auch Familien mit kleinen und mittleren Einkommen spürbar. Ein echtes Handlungskonzept, um Kinderarmut strukturell zu bekämpfen, lässt sich allerdings nicht erkennen.
Dennoch bleibt die Bewertung des Finanzteils deutlich:
Dieses Finanzkapitel ist geprägt von Klein-Klein, Rücksichtnahme auf die Einkommensstärksten und fehlendem Gestaltungswillen. Die großen Herausforderungen – von gerechter Finanzierung über Klimaschutz bis hin zur Verteilungsgerechtigkeit – werden nicht angegangen. Stattdessen profitieren vor allem Besserverdienende, während wichtige Entlastungen für kleine und mittlere Einkommen ausbleiben oder vage bleiben. Und über allem steht der Vorbehalt der Finanzierung – ein Einfallstor für künftige Kürzungen und politische Blockade. Kurzum: Die finanzpolitische Handschrift der Union dominiert – mit viel Ideologie und wenig Gestaltungswillen.
2. Verkehr & Infrastruktur: Asphalt statt Mobilitätswende
Der Koalitionsvertrag führt die fossile Logik alter Verkehrspolitik nahtlos fort. Die Pendlerpauschale wird ab dem ersten Kilometer erhöht, der in der Ampel – endlich – geschaffene Grundsatz: Straße finanziert Schiene wird zurückgedreht – ein klarer Rückschritt für klimafreundliche Mobilität. Der Bahn fehlen so sechs Milliarden jährlich, die nun aus dem Sondervermögen kommen sollen oder aus dem Klima- und Transformationsfonds, wo es dann auch fehlen wird.
Gleichzeitig soll die Lkw-Maut entlastet und Regionalflughäfen weiterhin gefördert werden. Dass parallel eine Hyperloop-Teststrecke entstehen soll, wirkt fast schon zynisch angesichts der ungelösten Probleme im täglichen Nah- und Fernverkehr. Zwar soll das Deutschlandticket bis 2029 preisstabil bleiben – das ist ein Lichtblick – doch ohne Investitionen in Taktung, Personal und Infrastruktur droht das Ticket auf lange Sicht zu einem leeren Versprechen zu werden – gerade und insbesondere in den ländlichen Regionen. So wird dort die Abhängigkeit vom teuren eigenen Auto zementiert.
3. Klima, Energie & Umwelt: Rückzug aus der Verantwortung
Der Klimaschutz kommt im Koalitionsvertrag bestenfalls am Rande vor. Das Klimageld fehlt, Sektorziele – besonders im Verkehr – bleiben unbeachtet, und bei der Gebäudewende wird weiter auf Gas gesetzt. Klimaneutralität wird dem Gas dabei scheinbar durch eine Zeile im Koalitionsvertrag befohlen. Die Idee, Klimaziele durch Zertifikate aus dem Ausland und CO₂-Speicherung zu erreichen, ist ein Ablenkungsmanöver – nicht echte Transformationspolitik. Lippenbekenntnisse zum Klimaschutz sind vorhanden, tatsächliche Wege zur Klimaneutralität und Lösungen allerdings nicht.
Zwar wird der Solarausbau fortgeführt und das Windflächenziel grundsätzlich bekräftigt, doch aktive Förderung fehlt. Meine große Sorge: Auf EU-Ebene könnten in den kommenden Jahren wichtige Umweltstandards verwässert werden – mit Billigung dieser Koalition. Die Klimafolgenanpassung bleibt rein technisch gedacht – Mauern statt Retentionsräume, Beton statt Wandel. Zwar finden sich im Koalitionsvertrag Absichtserklärungen zum Schutz von Lebensräumen, doch konkrete Pläne, wie wir das Artensterben stoppen und die biologische Vielfalt bewahren können, fehlen. Das ist ein schwerwiegendes Versäumnis, denn gerade die Klimakrise verschärft den Verlust von Lebensräumen in rasantem Tempo. Auch verbindliche Vorgaben zur Reduktion von Pestiziden und zum Schutz der Böden fehlen. Immerhin: Selbst die Union hat Abstand genommen von der aberwitzigen und wirtschaftlich katastrophalen Idee einer Rückkehr zur Atomkraft. Ein spätes Eingeständnis – vor allem des bayerischen Ministerpräsidenten.
4. Migration & Menschenrechte: Abschreckung statt Schutz
In der Migrationspolitik verlässt die neue Koalition den Boden des humanitären Anstands komplett. Der Familiennachzug wird zwei Jahre ausgesetzt, legale Fluchtwege wie Bundesaufnahmeprogramme für Afghanistan entfallen. Ukrainische geflüchtete Menschen sollen statt Bürgergeld nur noch reduzierte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten – ein sozialer Rückschritt mit gezielter Abschreckungswirkung.
Grenzkontrollen sollen normalisiert, Schengen de facto ausgehöhlt werden. Diese Politik bedeutet nicht mehr Sicherheit, sondern ist menschlich ein Tiefpunkt und stellt einen Frontalangriff auf den humanitären Flüchtlingsschutz, Europarecht und letztlich die christliche Nächstenliebe dar. Deutschland reiht sich damit in einen gefährlichen Wettbewerb um die härteste Flüchtlingspolitik in Europa ein.
Auch in der Integrationspolitik geht es rückwärts: Während wir Grünen eine erleichterte Einbürgerung und sichere Bleibeperspektiven auf den Weg gebracht haben, verschärft die neue Koalition die Hürden zur Staatsangehörigkeit. Damit werden gut integrierten, berufstätigen Menschen das Mitspracherecht verweigert und Perspektiven genommen – eine integrationspolitische Bankrotterklärung, die zugleich unserer Wirtschaft schadet. Denn wer Fachkräfte will, muss auch dauerhafte Sicherheit bieten.
5. Soziales & Arbeit: Rechte schleifen, Sicherheit kürzen
Der Vertrag streicht zahlreiche soziale Fortschritte, die die Ampel eingeleitet hat. Sozialleistungen sollen gekürzt, die Rechte von Arbeitnehmer*innen beschnitten werden – etwa durch die Abschaffung des Lieferkettengesetzes und die geplante wöchentliche statt tägliche Arbeitszeitbegrenzung. Das verschärft Druck und Unsicherheit – gerade bei Menschen mit geringen Einkommen.
Die Rente bleibt weitgehend unangetastet – mit Ausnahme der von der CSU gefeierten Mütterrente, natürlich ohne Gegenfinanzierung. Altersarmut wird nicht adressiert. Ein Konzept zur Stabilisierung des Rentenniveaus fehlt gänzlich, ebenso wie ein glaubwürdiger Ansatz für eine gerechte, zukunftssichere Altersvorsorge.
Auch bei der Stärkung von Grundrechten und Gleichstellung bleibt die Koalition mutlos: Es gibt weiterhin keine Bestrebungen, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, obwohl sich Fachverbände und Kinderrechtsorganisationen seit Jahren dafür stark machen. Zur Abschaffung des § 218 fehlt dieser Koalition nicht nur der Mut – sondern auch das gesellschaftliche Gespür für Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert.
In der Queerpolitik überwiegt Misstrauen statt Rückhalt: Das Selbstbestimmungsgesetz soll überprüft, potenzieller „Missbrauch“ in den Fokus gestellt werden. Konkrete Schutzmaßnahmen für queere Menschen fehlen. Der Begriff „queer“ taucht im Vertrag nur zweimal auf. Kein Wort zur Reform des Abstammungsrechts, keine Stärkung des Diskriminierungsschutzes, kein klares Bekenntnis zur Fortführung des „Aktionsplans Queer leben“. Es bleiben vage Beteuerungen, dass man für „ein diskriminierungs- und gewaltfreies Leben“ für alle Menschen eintrete – angesichts zunehmender queerfeindlicher Übergriffe ist diese Ignoranz ein fatales Signal.
Die Botschaft ist deutlich: Soziale Sicherheit und Gleichberechtigung stehen für diese Koalition nicht im Zentrum – sondern unter Vorbehalt.
6. Gesellschaft & Demokratie: Viel Symbolik, wenig Substanz
Beim Kampf gegen Rechts bleibt der Vertrag vage. Zwar wird das Demokratieförderprogramm „Demokratie leben“ fortgeführt, doch andere wichtige Programme wie „Jugend erinnert“ fehlen. Die angekündigte Förderung des Ehrenamts bleibt unkonkret. Antisemitismus wird thematisiert – das ist wichtig – doch insgesamt überwiegt eine Law-and-Order-Rhetorik.
7. Digitalpolitik: Überwachung statt Fortschritt
Die neue Koalition plant massive Einschränkungen der Rechte im digitalen Raum: Vorratsdatenspeicherung, Chatkontrolle, Gesichtserkennung, Quellen-TKÜ und automatisierte Datenanalysen. Gleichzeitig bleibt das geplante Digitalministerium ein leeres Versprechen – kaum definiert, ohne klare Zuständigkeiten. Auch die Rolle der Bundesdatenschutzbeauftragten wird im Interesse der Wirtschaft neu zugeschnitten. Datenschutz und digitale Freiheitsrechte werden zugunsten von Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen massiv verschoben.
8. Kleine Lichtblicke
Trotz scharfer Kritik gibt es auch ein paar positive Punkte: Die Förderung des Biolandbaus wird fortgeführt, das Programm zur Agrarstruktur & Küstenschutz bleibt erhalten, ebenso die Mittel für deutsch-polnische und -tschechische Bahnprojekte. Durch das von uns mitverhandelte und beschlossene Sondervermögen werden große Spielräume für Investitionen in den kommenden Jahren geschaffen. Hier muss die Kleine Koalition liefern! Die digitale Gewaltprävention wird ausgebaut, ein NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg wird eingerichtet, das Deutschlandticket bleibt vorerst preisstabil. Das sind wichtige, wenn auch punktuelle Erfolge – aber sie verblassen angesichts der Gesamtrichtung.
Gesamtbewertung: Fortschritt sieht anders aus
Diese neue Regierung regiert unter Vorbehalt – und das nicht nur finanziell. Ihr Koalitionsvertrag ist durchzogen von vielen Absichtserklärungen, aber wenig konkreten Lösungen. Statt einer mutigen Antwort auf die Krisen unserer Zeit sehen wir Rückschritte beim Klimaschutz, soziale Kälte in der Migrations- und Sozialpolitik, sowie wirtschaftspolitische Ideen von vorgestern.
Statt den Wandel zu gestalten, wird der Status quo verwaltet – mit einer klaren Schlagseite zugunsten der Privilegierten. Ausgerechnet die wenigen zukunftsorientierten Ansätze im Bereich Wirtschaft und Infrastruktur erinnern auffallend an Vorschläge von Robert Habeck – jenem Minister, den die Union über Jahre als „schlechtesten Wirtschaftsminister aller Zeiten“ diffamiert hat.
Aus grüner Perspektive ist klar: Diese Koalition wird den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht. Sie braucht eine starke Opposition, die laut, konstruktiv und konsequent für Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte eintritt. Dafür stehen wir – jetzt erst recht.